Zusammen mit Pflegepionieren Annemarie Fajardo auf die Ereignisse und Nachrichten im September 2022. Was hat die Pflegebranche beschäftigt?
Im September 2022 beschäftigen wir uns in unserem Rückblick mit der verpflichtenden tariflichen Bezahlung in der Altenpflege und Lauterbachs Verteidigung der Steigerung der Löhne in der Altenpflege.
Annemarie, was waren deine Highlights im Monat September?
Wir sprachen bereits in den letzten Monaten immer wieder über die Tariftreueregelung in der Altenpflege. Nun ist der Monat gekommen, wo die Tariftreueregelung ab sofort greift und die tarifliche Bezahlung für die Pflegebetriebe verpflichtend ist. Das ist das eine Highlight. Das zweite Highlight ganz passend dazu ist, dass Lauterbach die Steigerung der Löhne in der Altenpflege verteidigt.
Wie hängt das eine mit dem anderen denn zusammen? Warum muss denn nun eine gute Bezahlung durch das Bundesgesundheitsministerium eigentlich verteidigt werden?
Zunächst einmal ist es sehr gut, dass es endlich eine verpflichtende Regelung für die Pflegebetriebe gibt, was die Entlohnung der Beschäftigten anbetrifft. Seit Einführung der Pflegeversicherung ist das tatsächlich ein Novum, dass Beschäftigte, insbesondere auch in privatrechtlich organisierten Pflegebetrieben, nach Tarif bezahlt werden können. Nicht zuletzt geht es darum, Mitarbeitende in den Betrieben zu halten und ihnen gleichzeitig eine gute Bezahlung anbieten zu können. Dies war vorher nicht der Fall, was viele Pflegebetriebe auch bedauert haben, denn eine höhere Vergütung führt zu höheren Ausgaben im Bereich des Personals und diese konnten nicht immer mit den Pflegekassen verhandelt werden. Jetzt gibt es eine gesetzliche Grundlage dafür, was wiederum die Pflegebetriebe nutzen können, um mit den Kassen in die Verhandlungen zu gehen. Das heißt, dass die Lohnsteigerungen erst durch eine entsprechende Pflegesatzverhandlung refinanziert werden können.
Die Gehaltssteigerungen sollen um bis zu 30 Prozent ansteigen. Ist das nicht eine enorme Belastung für die Pflegekassen?
In der Tat müsste man jetzt davon ausgehen, dass die Gehaltssteigerungen tatsächlich den Geldbeutel der Pflegekassen betreffen würden. Allerdings ist der Kassenanteil, der sich an den jeweiligen Pflegegraden orientiert, gedeckelt, so dass die Kostensteigerungen von den pflegebedürftigen Menschen selbst getragen werden müssen. In der stationären Altenhilfe etwa wird somit in den kommenden Jahren der einrichtungseinheitliche Eigenanteil weiter ansteigen. Er liegt derzeit ohnehin schon bei durchschnittlich bundesweit 2000 €/ Monat (vdek 2021), was bereits jetzt schon viele Menschen in den Pflegeheimen finanziell stark belastet. Viele der Pflegebedürftigen müssen sich dann das restliche Geld vom Sozialamt holen, werden quasi zum Sozialhilfeempfänger aufgrund ihrer Pflegebedürftigkeit.
Steigt damit nicht auch die Altersarmut, wenn der Pflegebedürftige einen solch hohen Betrag an Eigenanteil entrichten muss?
Die Altersarmut bei Pflegebedürftigen Menschen darf man tatsächlich nicht unterschätzen. Auf der einen Seite ist es ja gewollt, dass die Beschäftigten in Pflegebetrieben höre Gehälter bekommen, um gleichzeitig den Beruf auch attraktiver zu gestalten. Auf der anderen Seite kann es natürlich nicht sein, dass diese berechtigten Gehaltssteigerungen auf den Pflegebedürftigen Menschen abgewälzt werden und dadurch Altersarmut weiter verstärkt wird. Im Prinzip müssten die höheren Gehälter von den Pflegekassen getragen werden. Jedoch sind die Versicherungsstrukturen nach Pflegeversicherungsgesetz immer noch so geregelt, dass es sich in der Altenhilfe um eine Teilkasko Versicherung handelt und dadurch immer ein Eigenanteil selbst bezahlt werden muss. Es wird auch vorausgesetzt, dass jeder Versicherte sich um seine Gesundheit und auch um den Erhalt seiner Pflegefähigkeiten selbst zu kümmern hat. So sagt der Staat, dass jeder für sich selbst sorgen muss und vor allen Dingen auch prüfen muss, inwieweit er sich zusätzlich privat absichert. Es wirkt also insgesamt so, als würde der Staat auf der einen Seite für höhere Gehälter der Beschäftigten sorgen, aber auf der anderen Seite die Altersarmut vergrößern. In einem Sozialstaat wie Deutschland wirken diese Mechanismen allerdings sehr widersprüchlich und das dürfte eigentlich nicht sein.
Müsste der Staat also nicht etwas dagegen tun, um die Altersarmut irgendwie zu verhindern?
Der Staat ist auf jeden Fall verpflichtet, etwas gegen die Altersarmut zu tun, besonders wenn es um pflegebedürftige Menschen geht, die bereits seit Einführung der Pflegeversicherung einen sehr hohen Betrag selbst finanzieren. So wurden bereits die höheren Eigenanteile zum 1. Januar 2022 gestaffelt begrenzt. Die Pflegebedürftigen mit Pflegegraden 2 bis 5 in stationären Einrichtungen erhalten je nach Verweildauer einen durch die Pflegekassen finanzierten Zuschuss zu ihrem privat zu zahlenden Eigenanteil in Höhe von 5 bis 70 Prozent. Durchschnittlich sind das jedoch gerade einmal 368 € pro Monat. Bei den Menschen die über ambulante Pflegedienste unterstützt werden wurden die Leistungsbeträge für Pflegesachleistungen entsprechend erhöht. Seit dem 1. Januar 2022 erhalten diese Pflegebedürftigen zwischen 35 € (Pflegegrad 2) bis 100 € (Pflegegrad 5) mehr (BMG 2022).
Jetzt hat Minister Lauterbach die höheren Löhne in der Altenpflege verteidigt? Warum ist das aus deiner Sicht wichtig?
Letztendlich bringt es natürlich wenig, wenn man auf der einen Seite pflegerische Leistungen anbieten möchte und auf der anderen Seite aber kein Personal für diese Leistungen findet. Mit den höheren Gehältern besteht die Chance, dass die Beschäftigten in der Altenpflege länger im Beruf bleiben, wenn sie gut bezahlt werden. Seit vielen Jahrzehnten kämpfen die Pflegekräfte der Altenhilfe für gute Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Und jetzt ist natürlich endlich ein Schritt erreicht, wo dies auch gesetzlich verankert ist. Das ist zunächst einmal ein ganz wichtiger Meilenstein, der für die Berufsgruppe erreicht werden konnte. Und Herr Lauterbach sieht diesen wichtigen Schritt als „späten Dank an alle aktiven Pflegekräfte und als ein gutes Zeichen an alle, die diesen wichtigen und erfüllenden Beruf ergreifen wollen.”
Jedoch muss man auch festhalten, dass es natürlich nicht sein kann, dass höhere Löhne auf den Pflegebedürftigen Menschen abgewälzt werden, trotz dass es einen finanzierten Zuschuss gibt. Denn diese Zuschüsse reichen bei weitem nicht aus, um die steigende finanzielle Belastung von pflegebedürftigen Menschen zu verhindern. So kritisierte die VdK-Präsidentin Verena Bentele zurecht, dass es von der Politik eine Gegenfinanzierung geben muss. Diese höheren Gehälter müssten aus meiner Sicht gesamtgesellschaftlich getragen werden. Hierzu gibt es bisher aber keine ausführlichen Diskurse, um die Politik davon zu überzeugen, zum Beispiel die Pflegeversicherung zu reformieren.
Das Bundesgesundheitsministerium zeigt sich bisher recht zuversichtlich, da es ja jetzt seit Beginn dieses Jahres die Zuschüsse zu den Eigenanteilen gibt. Die Preissteigerungen für die Pflegebedürftigen sollten wir jedoch erst einmal abwarten, denn es ist davon auszugehen, dass die Eigenanteile auf bis zu 4.000 € pro Monat ansteigen werden (Altenheim 2022).